Interview

Wie misst man Humankapital?

Personal
11.06.2024

Humankapital rückt zunehmend ins Zentrum von Unternehmensbewertungen. Petra Daroczi, ESG-Analystin und Portfoliomanagerin bei der Fondsgesellschaft Comgest, hat eine Kennzahl entwickelt, die das Humankapital eines Unternehmens messbar und vergleichbar macht: den „Human CapEx“.
Petra Daroczi
Petra Daroczi, ESG-Analystin bei der Fondsgesellschaft Comgest

In einer Zeit, in der soziale Verantwortung und nachhaltige Entwicklung an Bedeutung gewinnen, rückt das Humankapital zunehmend ins Zentrum der Unternehmensbewertung. Petra Daroczi, ESG-Analystin und Portfoliomanagerin bei der renommierten internationalen Fondsgesellschaft Comgest, hat zusammen mit ihrem Team eine innovative Kennzahl entwickelt, die das Humankapital eines Unternehmens messbar und vergleichbar macht: den „Human Capital Expenditure“ oder kurz „Human CapEx“. Diese Methodik bietet eine neue Perspektive auf die Bewertung von Unternehmen und ermöglicht es Investoren, das Wachstumspotential und die Nachhaltigkeit eines Unternehmens umfassend zu analysieren. In einem exklusiven Interview gibt Daroczi Einblicke in die Entstehung und die Bedeutung dieser Kennzahl, erklärt, wie „Human CapEx“ in den ESG-Kontext eingebettet ist, und verdeutlicht anhand konkreter Beispiele, wie diese neue Metrik den Blick auf Unternehmen verändern kann.

Die Wirtschaft: Frau Daroczi, können Sie erläutern, was genau unter „Human CapEx“ zu verstehen ist und wie diese Kennzahl entwickelt wurde?

Petra Daroczi: Der Investmentstil, den wir bei Comgest verfolgen, nennt sich Qualitätswachstum. Wir sind sehr selektiv und zielen darauf ab, qualitativ hochwertige Unternehmen mit widerstandsfähigen Geschäftsmodellen zu identifizieren. Wenn Investoren über nachhaltige Kriterien und Aspekte sprechen, dann stehen dabei bislang vor allem das E und das G im Vordergrund, zum einen, weil Regelwerke wie die EU-Taxonomie hier zuerst angesetzt haben, zum anderen, weil es häufig hier schon messbare KPIs wie etwa den CO₂-Ausstoß gibt. Das war bei sozialen Faktoren bislang nur begrenzt der Fall. Die Vergleichbarkeit von Daten bei sozialen Kriterien kann komplexer sein, auch sind die Kriterien häufig subjektiver und von ethischen und kulturellen Aspekten geprägt. Wenn man aber ESG-Kriterien als Faktoren im Rahmen der allgemeinen Risikobewertung eines Unternehmens heranzieht, so wie wir das bei Comgest schon immer getan haben, dann kommt man auch an den sozialen Faktoren nicht vorbei.
Eine kritische Kapitalquelle, die wir vor einem möglichen Investment bewerten, ist die menschliche Dimension im Unternehmen. In diesem Zusammenhang haben wir uns die Frage gestellt, ob es eine Methode gibt, um zu eruieren, ob ein Unternehmen sein „größtes Kapital“ wirklich schätzt und fördert. Wir sind der Auffassung, dass es eine gibt.

Wo wurden Sie fündig?

Investitionsausgaben, auch „CapEx“ (Capital Expenditures) genannt, beziehen sich im Allgemeinen auf Investitionen in physische Vermögenswerte, wie den Kauf und die Instandhaltung von Immobilien, Maschinen und Anlagen. Diese Investitionen werden in einer Cashflow-Rechnung und im Laufe der Zeit in einer Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) ausgewiesen. „Human CapEx“ hingegen bleibt in herkömmlichen Jahresabschlüssen ein weitgehend verborgener Posten. Wenn wir die tatsächlichen Investitionen eines Unternehmens in seine Belegschaft – sprich, seine „Humankapital-Ausgaben“, betrachten, stellen wir uns folgende Fragen: Bietet es angemessene Löhne und Sozialleistungen? Befähigt es seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch Weiterbildungen oder Schulungen? Bietet es intern Möglichkeiten, um die „Führungskräfte von morgen“ zu fördern? Wird, beispielsweise vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen mit der Covid-Pandemie, „mentale Gesundheit“ oder einfach nur das „Wohlbefinden“ der Mitarbeitenden berücksichtigt?

Was waren die Hauptbeweggründe eine Methodik zur Messung des Humankapitals zu entwickeln?

Zusätzlich zu dem bereits gesagten: Bei materiellen Investitionen, beispielsweise in eine Maschine, sollten diese zu weniger Ausfällen, höherer Produktivität und mehr Langlebigkeit führen. In diesem Sinne sind wir der Meinung, dass eine angemessene Investitionspolitik im Bereich der HR zu einer geringeren Mitarbeiterfluktuation, einer produktiveren Belegschaft und einem dauerhaften Wettbewerbsvorteil führt. Darüber hinaus trägt sie dazu bei, qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu akquirieren und zu halten.

Inwiefern beeinflussen aktuelle Ereignisse wie die Kündigungswellen bei großen Tech-Unternehmen oder der Stellenabbau bei Tesla den Blick auf das Humankapital?

Bei einer solch starken Reduktion in einem Unternehmen gilt es für uns als ESG-Analystinnen und -Analysten besonders darauf zu achten, wie klar die Kommunikation hierzu erfolgt ist und dass die lokalen Arbeitsgesetze eingehalten werden. Schlankere Strukturen funktionieren für manche Firmen besser und können aus geschäftspolitischer und manchmal auch kultureller Sicht notwendig sein. Zudem gibt es weitere Risikofaktoren, die hier beeinflussend auf so eine Entscheidung gewirkt haben könnten – geopolitischer oder regulatorischer Art zum Beispiel. Der Mitarbeiterabbau ist manchmal unumgänglich. Die Frage für uns jedoch ist, wie er erfolgt. Inwieweit werden Menschen, die ausscheiden, begleitet oder unterstützt? Inwieweit werden interne Möglichkeiten genutzt, um einige der ausscheidenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intern umzuschulen und/oder in anderen Abteilungen unterzubringen? Inwieweit wirken sich große Entlassungen auf die Wahrnehmung der Unternehmenskultur bei den Mitarbeitenden aus? Inwieweit wirken sich große Entlassungen auf die Fähigkeit des Unternehmens aus, neue Talente anzuziehen?

Wie fügt sich „Human CapEx“ in die breiteren ESG-Kriterien ein und warum ist es für Investoren wichtig, diesen Aspekt zu berücksichtigen?

Die Kennzahl ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Qualitätswachstums-Analyse. In anderen Worten: Bei der Analyse von Unternehmen bevorzugen wir jene mit höheren Markteintrittsbarrieren aufgrund dauerhaftem Know-How und von Patenten, menschliche und kulturelle Nachhaltigkeitsaspekte, organischem Wachstum, etwa über ein innovatives F&E Team und schließlich das Top-Management, seine Qualität, Erfahrung aber auch die Nachfolgeplanung. Die Betrachtung nicht finanzieller Kennzahlen hilft dabei, die Firmenkultur besser zu verstehen, um damit auch das Umsatzwachstum eines Unternehmens vollumfänglich analysieren zu können.

Können Sie beschreiben, welche Metriken und Datenpunkte bei der Berechnung von „Human CapEx“ verwendet werden?

Das hängt vom jeweiligen Unternehmen ab, aber folgende KPIs sind mitunter relevant: Angemessene Löhne, Mindestlohn und existenzsichernder Lohn, nicht-finanzielle Leistungen wie Gesundheits- und Wohlfühlpakete, Altersvorsorge und Mitarbeiterbeteiligungsprogramme, Investitionen in Schulungen als auch interne Aus- und Weiterbildung, die interne Beförderungsquote, die Amtszeit und den Hintergrund der HR-Leitung, sowie das Fachwissen des Vorstands in Personal- und Menschenrechtsthemen.

Wie illustrieren Positiv- oder Negativ-Beispiele die Unterschiede im Umgang mit Humankapital und deren langfristige Auswirkungen?

Hierzu ein Beispiel: Die beiden US-Lebensmitteleinzelhändler Costco und Walmart haben in den letzten Jahren gleichermaßen große Investitionen in die Bereiche E-Commerce, Robotik, Automatisierung und in ihren Webauftritt getätigt, um den Anschluss nicht zu verlieren. Diese Investitionen waren unzweifelhaft wichtig, um das Ertragswachstum voranzutreiben, das den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens bestimmt. Aber beide Unternehmen sind auch auf ihre Mitarbeitenden angewiesen und stehen hier im Wettbewerb mit anderen Einzelhändlern. Betrachten wir Costco näher, lässt sich darüber hinaus Folgendes feststellen: Die Löhne bei Costco liegen deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn und durchschnittlich auch höher als bei anderen Einzelhändlern. Während der Pandemie hat die Firma darüber hinaus eine zusätzliche „Gefahrenzulage“ in Höhe von zwei US-Dollar pro Stunde eingeführt. Die mitarbeiterorientierte Kultur zeigt sich zudem in weiteren Benefits wie zusätzlicher Krankenversicherung, Altersvorsorgepläne sowie Förderung von Nachwuchskräften.

Wie lässt sich „Human CapEx“ auf Unternehmen in verschiedenen Regionen und Branchen anwenden? Haben Sie spezifische Anpassungen für unterschiedliche Märkte angedacht?

Die Analyse sozialer Kennzahlen, einschließlich der Arbeitspraktiken und der Investitionen in das Humankapital, ist ein essenzieller Bestandteil unserer ESG-Analyse und wird daher auf jedes Unternehmen angewandt, unabhängig von der Region oder Branche. Bestimmte Branchen sind jedoch eher auf Menschen ausgerichtet, also „menschenabhängig“, wie etwa Beratung, Speditionen, Fluggesellschaften. Oder sie sind anfälliger für potenziellen Arbeitsmissbrauch, wie der Einzelhandel oder die Landwirtschaft. Ebenso werden Unternehmen, die in Ländern mit weniger strengen Arbeitsrechten tätig sind oder in denen es in der Vergangenheit zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, einer noch genaueren Analyse unterzogen.

Welche konkreten Vorteile erwarten Sie für Investoren? Gibt es schon nachweisbare Erfolge?

Die Analyse der Investition in Humankapital verschafft uns einen besseren Einblick in das Geschäftsmodell, da die Berücksichtigung nicht-finanzieller Aspekte wie die Behandlung von Arbeitnehmern, Arbeitspraktiken, Investitionen in die Talententwicklung, unser Wissen zum jeweiligen Unternehmen verbessert. Es gibt viele nachweisbare Erfolge. Bleiben wir beim Beispiel Costco. Die mitarbeiterorientierte Kultur von Costco zeigt sich in der folgenden Anekdote rund um die Tatsache, dass das Unternehmen 90 Prozent der Kosten für die Gesundheitsvorsorge seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernimmt. Als der Mitbegründer und ehemalige CEO James Sinegal feststellte, dass das Unternehmen tatsächlich aber nur 88 Prozent der Kosten übernahm, erstattete er den Mitarbeitenden nicht nur die zusätzlichen 2 Prozent, sondern zahlte auch Aktien direkt in ihr Pensionskonto ein, damit diese nicht versteuert werden mussten. Diese und weitere Investitionen in das Humankapital haben sich ausgezahlt: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleiben im Durchschnitt neun Jahre bei Costco und werden zum Teil auch zu künftigen Führungskräften. Rund 70 Prozent der Lagerleiterinnen und Lagerleiter haben ihre Karriere als Angestellte begonnen.
Diese nicht-finanzielle Sichtweise trägt dazu bei, bestimmte Aspekte um die Firmenkultur noch besser zu verstehen, was besonders dann wichtig ist, wenn wir beispielsweise das Umsatzwachstum der Unternehmen analysieren. Wir sind der Meinung, dass Costcos langjährige „Human CapEx“ einer der Gründe für das konstant hohe Umsatzwachstum ist, das in der Regel zwischen 3 und 7 Prozent liegt, während Walmart vor seinem neuen CEO im Jahr 2014 zu wenig in die Mitarbeiterschulung und das Kundenerlebnis investierte. Das Unternehmen hat aber mittlerweile den Wert von Humankapital erkannt: In den letzten fünf Jahren hat Walmart im Rahmen seiner Initiativen „Retail Opportunity“, „Walmart Academy“, „Pathways“ und „Live Better U“ fast 3,5 Milliarden US-Dollar in Aus- und Weiterbildung investiert. Auch bei Walmart sind wir der Meinung, dass seine Investitionen in das Humankapital einer der Gründe für das zuletzt hohe Umsatzwachstum ist. Es lohnt sich also als langfristig orientierter Investor aus unserer Sicht, die soziale Komponente als Teil der ESG-Bewertung ebenfalls in die Unternehmensanalyse einfließen zu lassen.

Wie sehen Sie die Weiterentwicklung und Zukunft von „Human CapEx“? Welche Rolle soll diese Kennzahl in der langfristigen Unternehmensbewertung spielen?

Mehr Transparenz bei den Personalkosten ist der Weg in die Zukunft. Mit der bevorstehenden Verordnung in der EU erwarten wir, dass mehr Unternehmen ihre Arbeitskennzahlen offenlegen. Während wir den Personalaufwand bereits in unsere Bewertung einbeziehen, zum Beispiel über Arbeitskosten und Margen, erwarten wir, dass dieser Indikator eine noch größere Rolle spielen wird. Er ermöglicht es langfristig orientierten Anlegern nämlich, potenzielle Alpha-Quellen zu erkennen, die andere, „traditionelle“ Anleger möglicherweise übersehen.

Zur Person

Petra Daroczi ist eine erfahrene ESG-Analystin bei Comgest, einer globalen Vermögensverwaltungsgruppe mit Schwerpunkt auf Aktien. Ihr Fokus liegt auf der Entwicklung und Implementierung von nachhaltigen Investmentstrategien, wobei sie insbesondere das Humankapital als wesentlichen Faktor für langfristigen Unternehmenserfolg betrachtet. Sie hat zusammen mit ihrem Team die Kennzahl „Human CapEx“ entwickelt, um das Humankapital messbar zu machen und dessen Einfluss auf das Wachstumspotential eines Unternehmens zu bewerten.
Comgest ist eine globale Vermögensverwaltungsgruppe, die sich zu 100 Prozent im Besitz der Mitarbeiter und Gründer befindet. Mit einem verantwortungsvollen, konsistenten und auf Qualitätswachstum ausgerichteten Investmentansatz unterstützt Comgest Anleger auf der ganzen Welt und verwaltet ein Vermögen von rund 30 Milliarden Euro.